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Rahmentext zur Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern»

Patricia Purtschert
Vom ABC der De-/Kolonisierung. Oder: Das Wylergut liegt in der Welt

Wenn ein Wandbild von einem Schulhaus in ein historisches Museum überführt wird, wechselt es nicht nur den Ort: Der physische Umzug eröffnet neue Blicke und legt unbekannte Perspektiven frei. An der Entstehung und Erkundung dieses neuen Werks sind wir alle beteiligt, Sie und ich und viele historische und gegenwärtige Akteur*innen, die sich gerade um dieses Bild versammeln und seine Geschichte neu erzählen.

Als Bestandteil eines Primarschulhauses war das Wandbild über viele Jahrzehnte integriert in den Alltag im Berner Wylergutquartier. Mit seinen 360 mal 420 Zentimetern nahm es eine zugleich stille wie auch wuchtige Präsenz im Schulhaus ein. Vermutlich wanderten die Blicke der Kinder und Erwachsenen meist eher flüchtig über das vertraute Gemälde im Treppenhaus und blieben selten an einzelnen Darstellungen hängen. Aber Architektur prägt unseren Alltag. Das Wandbild vermittelte über Jahrzehnte hinweg auf subtile Weise eine Idee davon, was die Grundlagen unseres Wissens sind.

Auf dem Wandbild wird nämlich das Alphabet dargestellt und (fast) jedem Buchstaben ist eine Illustration zugeordnet. Den Kindern, die einen grossen Teil ihrer Zeit in diesem Schulhaus verbringen, vermittelt es die Basis ihrer Bildung, das ABC, und eine dazugehörige Ordnung der Welt. Diese Ordnung ist keine neutrale und zeitlose, es ist eine kulturell und historisch situierte Ordnung. (Auch wenn dieser, wie jeder Ordnung, etwas Zufälliges und manchmal Überraschendes anhaftet: So finden sich zwischen Tierdarstellungen auch ein Kalb und ein Lamm, die eine Untergruppe verschiedener Tierarten bilden, oder ein Schiff, das aus der Reihe der «natürlichen Darstellungen» fällt.) Das Bild, so könnten wir uns vorstellen, besagt Folgendes: «In diesem Schulhaus wird das lateinische Alphabet gelernt. Es ist ein Ordnungssystem und entspricht unserer modernen und eurozentrischen Idee von Wissen. Ihr begegnet ihm in den Vitrinen von Museen. Eure Schulbücher machen euch damit vertraut. Ihr wendet es an, wenn ihr Steine, Muscheln, getrocknete Pflanzen und Tierfiguren in eurem Setzkasten sortiert. Mit dem ABC lernt ihr die Welt aus unserer europäischen Perspektive lesen, verstehen und beherrschen.»

Aber: In der Ansammlung von Bildern kommen auch Menschen vor. Unter Tieren und Pflanzen, zwischen einem Pelikan, einer Quitte und einer Blume finden sich drei Gesichter, die den Buchstaben C, I und N zugeordnet sind. Alle drei Bezeichnungen spielen eine wichtige Rolle in der Welt des Kolonialismus. Die dazugehörigen Bilder zeigen exotisierte Männergesichter, deren überzeichnete Hautfarbe – gelb, rot, schwarz – und deren stereotype Gesichtszüge sich mit rassistischen Vorstellungen von nicht-weissen Menschen decken. Die alphabetische Ordnung der Welt ist auch eine koloniale Ordnung. Denn, indem es Menschen zwischen Tiere und Pflanzen einordnet, nimmt das Wandbild Ideen der «Rassenforschung» auf. Diese verorten nicht-europäische Menschen näher an der Natur als europäische. Zudem wird uns eine patriarchale Ordnung vorgeführt: Aus einer weissen männlichen Perspektive richtet sie den Blick auf andere, rassifizierte Männer. Frauen oder Menschen anderen Geschlechts sind darin abwesend, sie sind weder Blickende noch Erblickte, weder Subjekte noch Objekte dieses Wissens.

Die Entscheidung, dieses Wandbild ins Museum zu bringen, löst es aus der Sphäre des Selbstverständlichen und aus seiner architektonischen Unverrückbarkeit heraus. Was im Schulhaus wie die unveränderliche Ordnung der Welt aussieht, wird im Museum zum Motiv für Fragen: Sind das wirklich die Grundlagen unseres Wissens? Wie verbinden sich in diesen Darstellungen Macht und Wissen? Und im historischen Museum kriegt das Wandbild eine Geschichte: Woher kommen diese Vorstellungen? Wie haben sie sich wann auf welche Weise und gegen was durchgesetzt?

Wie sah die Welt um 1949 aus, als die Künstler Eugen Jordi und Emil Zbinden an der Wand im Berner Schulhaus arbeiteten? In der westafrikanischen Goldküste gründete Kwame Nkrumah in diesem Jahr die Convention People’s Party, wenige Jahre bevor er 1957 erster Präsident des unabhängigen Ghana wurde. Die indonesische Republik erlangte 1949 ihre Unabhängigkeit, um die sie, nach dem Ende der kurzzeitigen Besatzung durch Japan, vier Jahre lang mit der niederländischen Kolonialmacht gerungen hatte. Indien war seit 1947 unabhängig und die Schweiz eines der ersten Länder, das die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in einem «Freundschaftsvertrag» 1948 vertraglich absicherte. Literarisch Interessierte lasen die Werke der chilenischen Schriftstellerin Gabriela Mistral, die 1945 den Nobelpreis der Literatur erhalten hatte. In demselben Jahr wurde in Bern unter der Leitung der Juristin Marie Boehlen mit 50'218 Unterschriften die bislang grösste Petition des Kantons eingereicht, die das Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene forderte; und die vom Regierungsrat nie behandelt wurde. Ebenfalls 1945 fand der fünfte Pan-Afrikanische Kongress in Manchester statt, der das Recht aller kolonisierten Menschen auf Selbstregierung einforderte. In einer Sitzung, über die der Historiker und Soziologe W.E.B. Du Bois Bericht erstattete, verlangten die jamaikanischen Vertreterinnen Amy Ashwood Garvey und Alma La Badie eine eigenständige Auseinandersetzung mit der Situation und den Problemlagen von Schwarzen Frauen. Wenige Monate später trafen sich in Paris 850 Frauen aus 40 Ländern, darunter auch aus der Schweiz, zur Gründung der Women’s International Democratic Federation (WIDF), die sich für die Gleichstellung der Geschlechter, gegen Krieg und für Demokratie einsetzte. In der Abschlussresolution wurden alle demokratischen Frauenorganisationen aufgefordert, Frauen in Kolonien im Kampf um ihre ökonomischen und politischen Rechte zu unterstützen. In den USA rang die Regierung mit der geforderten Aufhebung der «Rassensegregation», seit Schwarze US-Amerikaner*innen 1941 einen Marsch nach Washington angekündigt hatten. Unterstützt wurde die Bürgerrechtsbewegung von der bekannten Künstlerin Josephine Baker, die damals in Frankreich lebte und mit ihren Shows auch die Schweiz besuchte.

Warum wurde in einer solchen Zeit in Bern ein Bild gemalt, auf dem nicht-westliche Menschen als Objekte erscheinen, auf die wir blicken wie auf Tiere, Pflanzen und Dinge? (In Klammern sei hier angefügt, dass nicht nur der objektivierende und instrumentelle Zugriff auf Menschen, sondern auch auf Tiere, Pflanzen und Dinge zahlreiche Probleme mit sich bringt, mit denen wir uns aktuell etwa in der Klimakrise konfrontiert sehen. Aber das ist eine andere Geschichte und Stoff für eine andere Ausstellung.) 1949 war die Welt erschüttert von den Folgen des Nationalsozialismus und Faschismus, in deren Vernichtungslogik Rassismus eine zentrale Rolle spielte. Gleichzeitig waren Dekolonisierungsbewegungen in vielen Teilen der Welt im Begriff, sich vom Joch des Kolonialismus zu befreien. Warum also bestückten Eugen Jordi und Emil Zbinden ihr ABC mit Gesichtern, die rassistische europäische Vorstellungen nicht-europäischer Menschen tradierten?

Dazu lässt sich eine andere Geschichte erzählen: Als die beiden Künstler am Wandbild arbeiteten, war der Alltag in der Schweiz seit langer Zeit geprägt von einer kolonialen Kultur. Schweizer*innen besuchten Menschenausstellungen mit reisserischen rassistischen Titeln, die oft in Zoos oder im Zirkus stattfanden. Sie kauften exotische Kost im Kolonialwarenladen und schickten Missionsgesellschaften Spenden zur Bekehrung der «Heiden». An der Fasnacht schminkten sie ihre Kinder braun, gelb, rot oder schwarz und steckten sie in bizarre Kostüme, in denen sie nicht-europäische Menschen mimten. Dieselben Kinder gingen samstags in die Pfadi und verehrten deren Gründer, Lord Baden-Powell, der in der britischen Kolonialarmee gedient und unter anderem in Westafrika gegen die Asante Krieg geführt hatte. Kinder, besonders Buben, identifizierten sich durch die Lektüre von Globi-Büchern, SJW-Heften und den Werken von Karl May mit kolonialen Helden (und einigen wenigen Heldinnen). Der Pilot Walter Mittelholzer erschuf eine Schweizer Variante des verwegenen Abenteurers und nahm die Schweizer Bevölkerung in seinen Filmen und Büchern auf Flug- und Safarireisen mit. Derweil entriss das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute zahlreichen jenischen Familien die Kinder, um sie angeblich zur Sesshaftigkeit zu erziehen; eine rassistische Praxis, die sich bis in die 1970er Jahre fortsetzte. In Zürich forderten die Professoren der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten 1949 erfolgreich die Fortführung der Rassenanthropologie an ihrer Universität. Und 1948, ein Jahr vor der Fertigstellung des Wandbilds, wurde in Südafrika der Apartheidstaat errichtet. Die Schweiz befand sich unter den wichtigsten Handelspartnern des Landes und schloss sich den internationalen Sanktionen gegen das Unrechtsregime bis zu seinem Ende in den frühen 1990er Jahren nie an.

Wenn wir das Wandbild aus dem Wylergut auf diese Weise historisch einbetten, dann wirken die Darstellungen weniger aus der Zeit gefallen. Obwohl sie inmitten globaler emanzipatorischer Aufbrüche entstanden, gehören sie einer Schweiz an, die sich im kolonialen Weltbild bequem eingerichtet hatte. Und sie bilden ein Selbstverständnis ab, das sich bis heute hält: Die Vorstellung, es gebe ein koloniales ABC, auf das wir uns alle fraglos beziehen.

Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Denn es gab immer auch ein Alphabet der Dekolonisierung: Vorschläge, Forderungen, Analysen und Aktionen, die die koloniale Ordnung in Frage stellten und koloniale Gewalt zu stoppen versuchten. Gestützt auf die Erkenntnisse solcher widerständigen Bewegungen haben Wissenschaftler*innen in den letzten Jahren ein grosses Faktenwissen zusammengetragen, das die Involviertheit von Schweizer Handelsfirmen, Missionsgesellschaften, Bildungs- und Forschungsinstitutionen, Politiker*innen, Söldnern, Forscher*innen, Städten, Gemeinden und dem Bundesstaat in den Kolonialismus aufzeigen und belegen. Dieses Wissen verändert vertraute Vorstellungen von der Schweiz und ihrer Geschichte. Auch die vorliegende Ausstellung eröffnet den Raum für diese Auseinandersetzung. Sie führt vor Augen, dass Gegebenheiten, die uns so vertraut sind wie das Treppenhaus unserer Primarschule, koloniale Tiefenstrukturen aufweisen.

Die Ausstellung verhilft uns zu einem Blick, der die Schweiz aus dem Kokon der Amnesie befreit und sie in einer globalen Geschichte verortet, die auch eine Geschichte des Kolonialismus, der Dekolonisierung und der postkolonialen Gegenwart ist. Dass diese globale Geschichte bei einem Quartierschulhaus beginnen kann, ist kein eigenartiger Zufall, sondern eine vielsagende Pointe. Sie ermöglicht es uns zum Beispiel, nach dem Unbehagen und den Verletzungen zu fragen, die Eltern, Reinigungspersonal, Abwart*innen, Schüler*innen und Lehrer*innen, viele davon Migrant*innen und BIPoC, im Umgang mit dem kolonialen Alphabet erfahren haben. Wie können die Kritik und der Widerstand rekonstruiert werden, die sie als Antwort darauf entwickelt haben, im Selbstgespräch, im Dialog mit anderen und durch gemeinsame Aktionen? Einige Spuren erzählen davon. So weisen Löcher im N-Bildfeld darauf hin, dass das Menschengesicht zeitweilig mit einem Tierbild überdeckt gewesen war. Anstatt im Schulhaus eine angeblich natürliche koloniale Ordnung abzubilden, kann das Wandbild im Bernischen Historischen Museum nun solche Geschichten erzählen. Sie handeln von der Wirkmächtigkeit eines Schweizer Kolonialismus ohne Kolonien, vor allem aber von der transformativen Kraft antirassistischen Widerstands, der gegen Entmenschlichung und für gerechtere Formen des Zusammenlebens eintritt. Diese Geschichten sind noch lange nicht zu Ende. Sie gehen weiter, in dieser Ausstellung, vor unseren Augen, hier und jetzt.


Zur Autorin:
Patricia Purtschert ist Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Bern. Sie ist Autorin von Kolonialität und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte der weissen Schweiz und Mitherausgeberin von Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien.


Dieser Text erschien im Rahmen der Ausstellung «Widerstände. Vom Umgang mit Rassismus in Bern», die noch bis am 1. Juni 2025 im Bernischen Historischen Museum zu sehen ist.